Der Bähnler, der Bäcker werden wollte

Ein Städtetrip nach Wien? Oder einfach nur ein Billett nach Wauwil? Andreas Graber half am Nebiker SBB-Schalter weiter, dessen Geschichte mit seiner Pension vor fünf Jahren zu Ende ging. Was macht der letzte Bahnhofsvorstand heute?

Die Nebiker Bundesfeier 2012 bleibt dem ehemaligen Bahnhofsvorstand Andreas Graber immer in Erinnerung. Damals wurde eine S29 auf den Namen «Nebikon» getauft. «Meine Grosskinder spielen bis heute mit dem Modell, welches die Bevölkerung in Form eines Bastelbogens mit nach Hause nehmen durfte.» Foto Stefan Bossart
Stefan Bossart

Ein Bahnfreak? Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin. An den weis­sen Wänden hängen Aquarelle. Pinselstriche, die den Lauf der Aare oder ein Blumenbouquet auf Papier festhalten. Kein Zug, der über ein Viadukt fährt. Keine Modelleisenbahn, die im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses an der Zofingerstrasse in Brittnau ihre Runden dreht. Andreas Graber nimmt die suchenden Blicke wahr, lacht und steht auf. Im WC findet sich der passende Kalender, weil «man hier genügend Zeit hat, die wunderschönen Bilder zu betrachten.» In der Spielkiste seiner acht Enkelkinder liegt derweil eine via Bastelbogen zusammengeklebte Flirt-Komposition. «Diese verteilten wir 2012, als an der Nebiker Bundesfeier eine Lok auf den Namen des Dorfes getauft wurde», sagt der 69-Jährige. Seine eigene Leidenschaft für die SBB finde sich jedoch im Computer wieder. Reisen planen und selbst führen: Als Leiter der Sektion Aargau/Zug des Schweizerischen Eisenbahnerreisevereins ist er mit «seinem» Unternehmen nach wie vor stark verbunden. Daneben engagiert sich Andreas Graber als Mitglied der Synode im Kirchenparlament der reformierten Landeskirche Aargau und als Bauverwalter in der Kirchenpflege Brittnau. Und? «Und fertig», sagt Andreas Graber. Eines sei ihm wichtig: «Ich will meinen fünften Lebensabschnitt sinnvoll gestalten, aber ihn nicht vollends verplanen.»

Weiss-grüne Kelle statt Teigmaschine

Ein Sack mit Buttergipfeli. Das Mitbringsel wird zum Gesprächsthema. «Eigentlich wollte ich als kleiner Junge Bäcker werden», sagt Andreas Graber, während er sein Löffeli im Kaffeetassli dreht. Dass er seine Brötchen letztlich bei der SBB verdient hat, liegt über 50 Jahre zurück und am Besuch beim Berufsberater. «Er hat einen guten Job gemacht», sagt Andreas Graber. Hinter dem Schalter stehen, den Kundinnen und Kunden zu ihrem (Traum)-Reiseziel zu verhelfen – dies habe ihm bis zuletzt Freude bereitet. «Dank meines Berufs kam auch ich selbst in Fahrt», sagt der 69-jährige Brittnauer. Inklusive Stellvertretungen war er in seiner Karriere an 36 Bahnhöfen aktiv. Parlare Italiano? «Un po’». Français? «Bien sûr». Mit der grün-weissen Kelle «le train» in Fahrt bringen, oder die «barriera» herunterlassen: Seine Aufenthalte als frisch gebackener Betriebsdisponent in der Süd- und Westschweiz haben Spuren hinterlassen.

Geschichte geschrieben – dies hat Andreas Graber aber insbesondere an seinem letzten Arbeitsort in Nebikon. Ob der Männerchor ans Münchner Oktoberfest reisen, das frischvermählte Paar in Venedig in die Gondel steigen oder die Schulabgängerin für die beginnende Lehrzeit das passende Abo wollte – der Brittnauer stand ihnen hinter der Zentimeter dicken Glasscheibe des Nebiker Schalters während elf Jahren mit Rat und Tat zur Seite. Beratung, welche auf der Gotthardstrecke schon damals nur noch an grossen Bahnhöfen in Anspruch genommen werden konnte. «Ich war ein Exot im System», sagt Andreas Graber, der 2008 seine Stelle als Teamleiter in Zofingen quittierte und die Nachfolge des nach 45 Jahren aus dem Dienst scheidenden Max Näf in Nebikon antrat.

Aus der Zeit gefallen

«Bahnhofsvorstand – für mich erfüllte sich als 54-Jähriger jener Traum, den ich bereits in meiner Lehre zum Betriebsdisponenten hatte.» Um diesen bis zur Pension leben zu können, scheute er keine Mühen. Zur gebuchten Ferienreise ins Ausland besorgte er die passende Währung und für in aller Herrgottsfrühe vor der Bahnhofstür Schlange stehende Kulturinteressierte weitete er die Öffnungszeiten aus. Ob Tickets fürs Basel Tattoo, das Rolling Stones- oder AC/DC-Konzert – was heiss begehrt und nur via Ticket-Corner und Co. am SBB-Schalter gebucht werden konnte, liess Andreas Graber mit Vorverkaufsstart punkt sieben Uhr aus dem Drucker rattern. «Die Zeichen der Zeit konnte aber auch ich nicht aufhalten», sagt Andreas Graber. Sich ändernde Kundenbedürfnisse und die zunehmende Digitalisierung – als er 2019 in Pension ging, schrieb auch der Nebiker Schalter sein letztes Kapitel (siehe Kasten).

Den Bahnhof immer im Blick

Mindestens einmal im Jahr steigt Andreas Graber heute am Bahnhof Nebikon aus. Immer dann, wenn der Jazz-Club zur Jazz-Night lädt. Alte Erinnerungen kommen aber nicht nur dann auf. Zug- um Zugfahrt werden sie geweckt. Dies, wenn er Richtung Luzern unterwegs ist, mit seiner Frau Ursula die Rigi anpeilt oder inklusive Langlaufausrüstung die Melchsee-Frutt aufsucht. «Mit Kajak fahren auf dem Vierwaldstättersee habe ich auch im Sommer ein Hobby, dank dem ich den Nebiker Bahnhof immer wieder zu Gesicht bekomme. Ich erlebte hier eine gute, sehr gute Zeit», sagt er und fügt an: «Ich habe natürlich auch mitbekommen, dass mein altes Büro zu einem Kiosk umgebaut wird.» Dort dereinst «ein, zwei Gipfeli kaufen zu gehen», könne er sich gut vorstellen. Selber backen ...der Berufsberater hat es vergeigt.

Saure Schötzer und zweigleisig fahrende Altishofer

Immer wieder konnte die Schliessung des letzten verbliebenen SBB-Bahnschalters im Luzerner Wiggertal nach hinten geschoben werden. Doch am 31. Mai 2019 war definitiv Schluss, obwohl sich die Bevölkerung vehement dagegen stemmte. Innerhalb von drei Wochen unterschrieben damals 4718 Bürgerinnen und Bürger aus Nebikon, Altishofen, Ebers-ecken, Egolzwil, Dagmersellen, Schötz und Wauwil eine vom Gemeinderat Nebikon lancierte Petition gegen die Schliessung. Die Behörde stiess damit bei jedem vierten involvierten Einwohner auf Gehör, nicht aber bei den Verantwortlichen der SBB. Sie lehnten das Wiedererwägungsgesuch ab und machte dafür veränderte Kundenbedürfnisse und daraus resultierende wirtschaftliche Gründe geltend.

Was mit roten Köpfen in der Bevölkerung endete, fing alles andere als reibungslos an. Die Nebiker –  sie mussten gehörig für ihren Bahnhof kämpfen, wie Hans Marti im Jubiläumsbuch «1100 Jahre Nebikon» schreibt. In seinem Artikel rollt er die Bahngeschichte der Gemeinde auf, die mit dem Bau der Linie  Olten – Emmenbrücke (nicht etwa Luzern) ihren Anfang nahm. Als am 9. Juni 1856 die Strecke feierlich eröffnet wurde, stand in Nebikon noch kein Gebäude, sondern lediglich eine Baracke. Der Grund dafür war in den Nachbargemeinden zu finden.

Eine Bahnstation im Dorf Nebikon? Dies war insbesondere den Schötzern ein Dorn im Auge. Unter der Führung des einflussreichen lieberalen Schötzer Gemeindeammanns und Grossrats Martin Muri wurde zum eigentlichen Grossangriff auf die Station Nebikon geblasen, bei dem zahlreiche Egolzwiler kräftig mitmischelten. Sie setzten sich für die Verlegung des Bahnhofs hin zum Köchlihügel (Höhe heutige Migros) ein und konnten mittels einer Eingabe zwei Fünftel aller Luzerner Gemeinden für ihre Idee gewinnen. Nicht aber die Verantwortlichen der Schweizerischen Centralbahn. Ihr negativer Bescheid deutete der Schötzer Gemeinderat als Affront. 1856 schrieb er an den Regierungsrat: «Es ist nichts weniger eingeleitet, als der Gemeinde Schötz und der westlich derselben liegenden Ortschaften und Gemeinden die Zufahrt und Benutzung der Eisenbahn so unbequem wie möglich zu machen.» Worte, die mitunter auch mit Bestrebungen aus Altishofen verbunden waren.

Während Schötz im Verbund mit anderen Gemeinden für eine Verschiebung des Bahnhofsgebäudes Richtung Süden weibelten, hätte Altishofen diese lieber weit nördlicher unten bei der Wiggernbrücke gesehen. «Notgedrungen und mit halbem Herzen» bekannten sie sich zuerst zur Station in Nebikon. Doch kurz vor der Eröffnung der Strecke brachte der Altishofer Gemeinderat den Standort Wiggernbrücke erneut ins Gespräch, der sowohl die Station in Dagmersellen als auch jene in Nebikon obsolet machen sollte. Im Gegensatz zum Begehren der Schötzer stiess dieser Vorschlag bei der Schweizerischen Centralbahn auf offene Ohren. Der Luzerner Regierungsrat forderte bei dieser Lösung für das obere Einzugsgebiet jedoch als Ausgleich eine Strassenverbindung von Ettiswil durchs Moos zur Station Wauwil. Ein Bauprojekt, bei dem der Kanton der Centralbahn mindestens die Hälfte der Kosten auferlegen wollte. Deren Bescheid war abschlägig. Infolgedessen erklärte der Regierungsrat «die Sache im früheren Verhältnis zu belassen».

Der von Schötz propagierte Standort Köchlihügel – er wurde bis zum endgültigen Bau des Nebiker Stationsgebäudes 1859 dann doch nochmals zum Thema. Die Schweizerische Centralbahn zeigte sich plötzlich wieder gesprächsbereit. Jedoch nur, wenn die Petitionäre die mit dem Standort Nebikon entstandenen Kosten übernehmen würden. «Jetzt wurden alle still, und keiner wollte davon etwas wissen», schreibt Hans Marti. Damit war im wörtlichen Sinn die Bahn frei, um die Station Nebikon endgültig zu errichten. Übrigens: Deren Grundriss ist abgesehen vom Anbau mit den Toiletten bis heute der Gleiche geblieben. Das Aufnahmegebäude selbst wurde 1873/74 mit einer Wohnung für den Bahnhofvorstand aufgestockt. Stefan Bossart

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