«Klimaschutz kostet, Nichtstun noch mehr»

Jürgen Ragaller ist Luzerns Klimaexperte. Er hat am Klimabericht wesentlich mitgearbeitet. Für die Wirtschaft sieht er auf dem Weg zur Klimaneutralität grosse Chancen.

Luzerns Klimaexperte: Jürgen Ragaller. Foto zvg: zvg
Stephan Weber

Der Luzerner Klimabericht, der im Frühling 2021 in der Vernehmlassung war, ist 173 Seiten dick. Erarbeitet wurde er im Auftrag der Luzerner Regierung unter der Leitung des Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartements von Regierungsrat Fabian Peter. Rund 70 Fachbereiche, zum grossen Teil Expertinnen und Experten der kantonalen Dienststellen sowie Professorinnen und Professoren der Hochschule Luzern, waren daran beteiligt. Zu Echoräumen, wo die Meinung der Beteiligten eingeholt wurde, listet der Bericht 94 Interessengruppen auf. Vom Verband Luzerner Gemeinden bis zur Ärztegesellschaft Luzern, vom KMU- und Gewerbeverband Luzern bis zum Klimastreik Zentralschweiz. Mitgestaltet hat das Werk Jürgen Ragaller. Er ist 52 Jahre alt, hat ein Biologie-, und Energie- und Umwelttechnikum-Studium absolviert und arbeitet seit knapp anderthalb Jahren als Luzerner Klima­experte beim Kanton. Was ist der Reiz seines Jobs? «Es ist eine ungemein spannende und wichtige Aufgabe», sagt er. «Mir gefällt es besonders, mit zahlreichen verschiedenen Akteuren zusammenzuarbeiten, an einem Strick zu ziehen und einen Beitrag für mehr Klimaschutz zu leisten», sagt Ragaller.

1300 Rückmeldungen eingegangen
Zurück zum Klimabericht: Die vielen Interessengruppen haben darin ganz unterschiedliche Ziele. Das hat die Vernehmlassung des Berichts gezeigt, in welcher rund 1300 Rückmeldungen eingingen. Kritik gab es von Links («Es geht zu langsam vorwärts») bis Rechts («Konsequenzen für die Bevölkerung fehlt»). Klar: Einen Klimabericht zu erstellen, der allen gefällt, ist unmöglich. Trotzdem: Wie geht man vor, um bei einer möglichst breiten Schicht auf Zustimmung zu stossen? «Der Regierungsrat hat den Auftrag aufzuzeigen, mit welchen Massnahmen der Kanton Luzern die Klimaziele erreichen kann. Aus diesem Grund haben wir Echoräume gemacht und zahlreiche Expertinnen und Experten aus Verbänden, Departementen oder Hochschulen haben bei der Massnahmenerarbeitung mitgearbeitet. So ist extrem viel Wissen hineingeflossen», sagt Ragaller, dem es wichtig ist, dass das Erstellen des Berichts nur im Teamwork möglich war. «Auf dieser Grundlage kann das Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement dem Regierungsrat nun einen breit abgestützten Massnahmenkatalog zur Diskussion und zum Beschluss vorlegen.»

Netto-null-Ziel: nicht überall möglich
Den Ausstoss von CO₂ bis ins Jahr 2050 auf Netto null zu reduzieren: Das ist das Ziel, welches die EU, die Schweiz und damit auch der Kanton Luzern verfolgt. Netto null heisst: Es dürfen zwar weiterhin Treibhaus­gasemissionen entstehen, diese müssen aber in mindestens gleichem Umfang wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Das Netto-null-Ziel ist ambitiös. Im Kanton Luzern sind 2018 circa 2,3 Millionen Tonnen CO₂ ausgestossen worden. Bis 2050, so sieht es der Klimabericht vor, soll der Ausstoss auf 0,4 Millionen Tonnen reduziert werden können. Diese verbleibenden Emissionen müssen mit Negativ-Emissionstechnologien ausgeglichen werden. Während es in den Sektoren Gebäude, Verkehr und Industrie möglich sei, die Treibhausgasemis­sionen vollständig zu eliminieren, sei eine Reduktion auf null bis 2050 beim Abfall oder in der Landwirtschaft «nicht realistisch». Bei der Abfallbewirtschaftung haben die Emissionen seit 1990 «leicht zugenommen», bei der Landwirtschaft ist der Kanton Luzern bekanntlich ein sehr tierintensiver Kanton. Einerseits führt die intensive Nutztierhaltung zu hohen Methan- und Lachgasemissionen, andererseits ist auch die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen. «Ich bin grundsätzlich zuversichtlich, dass wir im Kanton Luzern das Netto-null-Ziel erreichen können. Viele der dazu benötigten Technologien sind jetzt verfügbar», so der Klimaexperte.

Förderprogramm wird ausgebaut
Für die Wirtschaft sieht Jürgen Ragaller gros­se Chancen. Konkret: wo und in welcher Form? «Die Umstellung auf erneuerbare Energien, Energieeffizienzmassnahmen in Gebäude und Industrie und die lokale Produktion von erneuerbaren Energien bieten grosse Marktchancen für das Luzerner Gewerbe», antwortet er. Noch wird in über der Hälfte der 68 000 Gebäude im Kanton Luzern mit fossiler Energie geheizt. Der Anteil an erneuerbarer Energie steige aber erfreulich. In acht von zehn Fällen wird bei einer neuen Heizung von einer fossilen auf eine nicht-fossile Heizung wie Wärmepumpe, einer Holzheizung oder Fernwärme gewechselt. Ziel des Kantons: In Zukunft sollen beim Heizungswechsel konsequent erneuerbare Heizungen installiert werden. Um dies zu erreichen, werde unter anderem das Förderprogramm Energie des Kantons in den kommenden Jahren ausgebaut, erklärt Ragaller. Auch punkto Energieeffizienz tue sich viel bei Gebäuden und in der Industrie. Etwa in der Gebäudedämmung oder bei Effizienzverbesserungen von Industrieprozessen. Solche Entwicklungen hätten sich durch das «neue» kantonale Energiegesetz beschleunigt, so der Klimaexperte.

Grosses Potenzial sieht Ragaller auch beim Verkehr, der im Kanton Luzern für knapp einen Drittel der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. «Ich sehe einen gros­sen Markt insbesondere für die Elek­tromobilität. Sie wird in den nächsten Jahren weiter stark zunehmen», so Ragaller. Wenn mehr fossilfrei betriebene Fahrzeuge auf den Strassen verkehren, braucht es auch mehr öffentliche Ladestationen oder Wasserstofftankstellen. «Das ist ein interessanter Markt für die Zulieferer.» Ragaller ist zuversichtlich, schneller als erwartet von Benzin und Diesel wegzukommen, auch bei Lastwagen und Bussen. «Ein gutes Beispiel ist der Luzerner Verkehrsbund, der mit seiner E-Bus-Strategie das Ziel verfolgt, dass der öV im Kanton Luzern bis ungefähr 2040 kein CO₂ mehr ausstösst.»

Neue Geschäftsfelder entstehen
Die Annahme ist weit verbreitet: Klimaschutzmassnahmen kosten und bremsen die Wirtschaft aus. Jürgen Ragaller ist anderer Meinung. Studien zeigten: Das Klima schützen ist volkswirtschaftlich günstiger, als später die Folgen des ungebremsten Klimawandels zu bezahlen. Oder kurz zusammengefasst: «Klimaschutz kostet, Nichtstun aber ist teurer.» Gelder, die in den Klimaschutz investiert werden, seien auch für die Unternehmen selbst oft gut investiertes Geld. Viele technische Massnahmen im Energie- und Klimabereich sind mittel- bis langfristig rentabel. Unternehmen, so der Experte, die ihre Prozesse bezüglich Energie und CO₂-Ausstoss optimieren, senkten dabei nicht nur ihre Energiekosten, sondern bräuchten häufig weniger Ressourcen und verbesserten ihre Prozesse. Zudem seien die Kunden heutzutage sensibler für das Thema, Klima und Nachhaltigkeit sei ihnen wichtig. «Firmen, die sich dieser Herausforderung stellen, werden in Zukunft profitieren», mutmasst Ragaller. Viele Unternehmen würden denn auch aktiv vorangehen und sich beim Klimaschutz und anderen Nachhaltigkeitsthemen ambitionierte und messbare Ziele setzen. Damit unterstützen sie letztlich die Zielsetzungen des Klimaabkommens von Paris. «Forschung und Wirtschaft bieten Lösungen an, um von fossilen Technologien wegzukommen. So entstehen neue und zukunftssichere Geschäftsfelder und Arbeitsplätze.»

Der Klimabericht wurde Anfang des Jahres vorgestellt, danach fand die Vernehmlassung mit breiter Beteiligung statt. Diesen Herbst wird der Regierungsrat die definitive Fassung des Klimaberichts zuhanden des Parlaments verabschieden. Geplant ist die Beratung im Kantonsrat in der Januar­session 2022, ebenso wie die Behandlung der zahlreichen Vorstösse in den Themen Klima und Energie. Danach soll der Regierungsrat dem Parlament alle fünf Jahre Bericht über den Stand der Massnahmen erstatten. «Ich freue mich auf die Diskussionen», sagt Ragaller. «Die zahlreichen Rückmeldungen in der Vernehmlassung haben deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Thema die Luzernerinnen und Luzerner stark beschäftigt.» Für ihn liege der Schlüssel zum Erfolg in der Klima­politik in der gemeinsamen Arbeit an einem gemeinsamen Ziel: Klimaneutralität 2050.

Stephan Weber

Ein Blick in die Zukunft. Grafik: Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement Kanton Luzern

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