Zwei Leben, auf fatale Weise verknüpft

In diesen Tagen ist mit «Krumholz» der jüngste Roman von Flavio Steimann erschienen. Der Autor und Theatermacher, der einst in Willisau als ­Sprachlehrer arbeitete, verwandelt ein historisches Verbrechen in eine fesselnde Geschichte.

Stephan Weber

1909 wird auf dem Ruswiler Hof «Huebschüür» die Scheune angezündet, vier Menschen ermordet. Der Täter Mathias Muff wird ein paar Monate später durch die Guillotine hingerichtet. Flavio Steimann liest in Archiven über das schreckliche Verbrechen und stösst bei seinen Recherchen auf einen anderen Kriminalfall, der sich ein paar Jahre später ereignen sollte und dem Autor als Vorlage für seinen jüngsten Roman «Krumholz» dient. Obwohl: Vorlage ist eigentlich das falsche Wort. Steimann, der heuer 76 Jahre alt wird, nimmt in seinem neuesten Werk zwar ein historisches Verbrechen auf (siehe Kasten). Das schon, aber das Buch ist kein Historienroman, keine Aneinanderreihung von Fakten und Quellen. «Das Schreiben eines Tatsachenberichts, ausschliesslich dokumentarisch und streng den Fakten entlang, wäre für mich als Autor uninteressant und zu einengend», sagt Autor Flavio Steimann, dessen vorletzter Roman «Bajass» im Luzerner Hinterland spielte und in Literaturkreisen für Begeisterung sorgte. Für ihn als Schriftsteller sei es wichtig, sich schnellstmöglich von einer konkreten Vorlage zu lösen und sie dann im Wesentlichen nur noch als Idee dem eigenständigen Werk zu belassen, indem er die brauchbaren Elemente verwende. «Ich will von zwei auf fatale Weise verknüpften Leben erzählen, nahe bei den Menschen und in einer anderen Gesellschaft und Zeit», sagt der Luzerner über das Ziel seines Romans.

Zwei Erzählstränge
Flavio Steimann erzählt die Geschichte von Agatha und Zenz, zuerst auf 102 Seiten vom Opfer, anschliessend auf 98 Seiten vom Täter. Agatha wird als «Taubstümmchen» geboren. Die Mutter stirbt bei der Geburt, der Vater erhängt sich später in der Scheune. Das Kind wächst in einer «Armen- und Idiotenanstalt» auf, muss sich durchschlagen, begehrt dann und wann auf und muss mit 16 Jahren weiterziehen. Das Fortgehen ist ihr «ein leiser Schmerz, ein Losreissen vom Gewohnten. Von einem Ort, an dem sie mit ihrem Dasein doch ungewollt Wurzeln geschlagen hat, wenn auch nur flache», schreibt Steimann. In einer Textilfabrik findet sie wieder Büez, eine Zeit lang scheint das Glück zum Greifen nah. Aber: Weil Agatha an Tuberkulose erkrankt, wird «die Schwächliche» aufs Land verfrachtet, um «mit neu gewonnenen Kräften nach und nach zu gesunden». Dort sollte sie später zur Vesperzeit ihrem Mörder begegnen. Zenz, der von einem Bauer als «verwahrlost, unaufrichtig» beschrieben wird und der auch nach der härtesten Strafe «nie Augenwasser bekommen» habe, schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Nur als er eine Zeit lang in Künstlerkreisen in Paris verkehrt, keimt so etwas wie Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Dass dem Täter dieselbe Aufmerksamkeit wie dem Opfer gewidmet wird, ist vom Autor so gewollt. «Was sonst nur anonym als Objekt eines Delikts Erwähnung findet, erfährt Empathie und bekommt in meinem Text ein Gesicht, und ein Leben wird auf diese Weise zu einem Menschen aus Fleisch und Blut», sagt Flavio Steimann.

Wieder ein Theaterstück?
Vom Roman «Bajass» ist 2020 eine Theaterfassung von Hanspeter Müller-Drossaart uraufgeführt worden. Wird «Krumholz» dereinst auch auf einer Theaterbühne zu sehen sein? «Als Erzähltheater mit den suggestiven Mitteln eines Schauspielers wäre es wohl möglich», sagt Flavio Steimann. «Anderes könnte ich mir nur bedingt vorstellen, ist doch der ganze erste Teil in der Erfahrung des Kindes vollständig lautlos. Es wäre ein eigentlicher Stummfilm.»

Bildstark, präzis, genau
Zurück zum Buch: Der Roman fesselt. Der Autor ist ein grossartiger Erzähler, seine Sprache ist bildstark. Ab der ersten Seite zieht einen die Geschichte vor dem geistigen Auge vorbei, lässt einen mitfühlen. Die vielen alten Wörter, welche der Schriftsteller in der Geschichte verwendet, mögen zwar den Lesefluss etwas verlangsamen, weil der eine oder andere die Bedeutung von Galoschen, Kalottenscheren, Kapaun, Schabracke, Fangershaus und anderen zuerst in Erfahrung bringen will. Aber: Das hat ja auch sein Gutes. Es ist dem Autor zu gönnen, wenn sich die Leser sorgfältig und intensiv mit seinem Text auseinandersetzen. Wenn sie Sätze zwei-, dreimal lesen und staunen. Oder Passagen aus Freude gar farbig unterstreichen, weil sie merken, wie viel Wert der Autor auf diese präzisen Schilderungen legt. Auf jeden Fall hat «Krumholz» ganz viele aufmerksame Leser verdient.

Stephan Weber

Flavio Steimann: Krumholz. Roman. Edition Nautilus
2021, 200 Seiten, ISBN: 978-3-96054-247-6.

Sein viertes Werk
Flavio Steimann wurde 1945 in Emmen geboren. Ausgebildet zum Primar- und Sekundarschullehrer, war er auch als Sprachlehrer in Willisau tätig und veröffentlichte literarische Texte. 1979 und 1985 erhielt er Förderpreise, 1982 ein Werkjahr von Stadt und Kanton Luzern. 1987 wurde ihm der Schweizerische Schillerpreis für die Erzählung «Aperwind» zugesprochen, 1988 ein Förderpreis der Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern. Ebenfalls 1988 nahm er am Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt teil. Als Verfasser von Erzählungen und Theaterstücken lebt er heute in Luzern. Der Autor hat in den letzten 35 Jahren vier Werke veröffentlicht: Den Roman «Passgang» (1986), «Aperwind» (1987), «Bajass» (2014) und jetzt «Krumholz» (2021). (pd/WB)

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