Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Bei der Premiere von «Der Sandmann» gewährte die Theatergesellschaft Willis­au am vergangenen Freitag Einblick in ein zerrissenes Seelenleben und überzeugte mit einer aufwendigen Inszenierung. Zudem gab es ein musikalisches Jubiläum zu feiern.
von Manuel Küng
 

Der dreifache Nathanael gespielt von Selina Arnold, Jasmin Blickisdorf und Severin Probst. Foto Stefan Tolusso
Chantal  Bossard

Der junge Student Nathanael hat Angst. Eine Begegnung mit dem Glaswarenhändler Coppola kratzt tiefschürfende Wunden aus seiner Kindheit wieder auf. Coppolas stechender Blick, seine wulstigen Hände, die zischende Stimme, das teuflische Lachen, sogar der Klang seines Namens erinnern Nathanael an eine schaurige Figur aus Kindheitstagen, den Advokaten Coppelius. Was es mit ihm auf sich hat? Ein Blick in die Vergangenheit liefert eine Antwort. Auf der Bühne wird das Rad der Zeit zurückgedreht, Nathanael ist wieder ein Kind. Da liegt der Junge in seinem Zimmer, von einer grausamen Gutenachtgeschichte in den Bann gezogen. Nathanaels Mutter erzählt dem Sohn, wie der Sandmann all jene Kinder heimsucht, die nicht schlafen wollen. Der Sandmann streue ihnen so lange Sand in die offenen Augen, bis die blutigen Augäpfel vorne aus den Köpfen rausfallen, um sie dann für sich einzusammeln. Das aufwendige Bühnenbild im Zeughaus Willisau und eine Live-Videoprojektion ermöglicht es dem Ensemble, die gruselige Geschichte packend zu erzählen. Es entsteht eine wirkungsvolle Atmosphäre, welche die Emotionen auf der Spielfläche direkt ins Publikum transportiert. Mit dem Bühnennebel schleicht sich die Angst vor dem Sandmann in die Köpfe der Zuschauerinnen und Zuschauer. So ist es für alle nachvollziehbar, dass Nathanael die Gutenachtgeschichte seiner Mutter für bare Münze nimmt. Der Junge hat gar eine Vermutung, wer der Sandmann in Wirklichkeit ist. Der besagte Advokat Coppelius, ein Freund seines Vaters, macht auf Nathanael einen bösartigen Eindruck. Sein Erscheinungsbild lässt den Jungen erschaudern. Angstvolle Träume vom Sandmann vermischen sich mit der Realität und sind für Na­thanael kaum mehr von dieser zu unterscheiden. Coppelius muss der Sandmann sein, ist er sich bald gewiss. Ein Schicksalsschlag bestärkt ihn in seiner Überzeugung. Im Traum beobachtet Nathanael, wie sein Vater und Coppelius alchemistische Experimente durchführen. Daraufhin verstirbt der Vater und der Advokat lässt sich nie wieder blicken. Zurück bleibt tiefe Trauer und die Angst vor Coppelius. Das plötzliche Erscheinen von dessen Doppelgänger Coppola lässt für Nathanael Jahre später deshalb nur einen Schluss zu: «Der Sandmann ist zurück.»

Premiere in der Regie
Ein unheimlicher Theaterabend voll spannender Wendungen nimmt seinen Lauf. In seiner Hilflosigkeit wendet sich Nathanael an den Stiefbruder Lothar. Wahnsinniges sei ihm widerfahren, schreibt er in einem verzweifelten Brief und berichtet von der Begegnung mit Coppola. Seine Erinnerungen an den Sandmann kehren zurück wie ein schrecklicher Fiebertraum. Doch weder Lothar noch Nathanaels Geliebte Clara teilen die Befürchtungen. Im Gespräch versuchen sie ihm auszureden, dass Coppola irgendwas mit Coppelius zu tun habe. Auch der Sandmann ist für Nathanaels Familie ein reines Hirngespinst. Er beginnt zu zweifeln. Was ist Wahrheit? Was ist Wahn? Wem kann man noch trauen? Es sind diese Fragen, die den Regisseur Robin Andermatt interessieren: «In der Zeit von Fake-News und Verschwörungstheorien sind wir täglich mit solchen Ungewissheiten konfrontiert.» Der in Grossdietwil aufgewachsene Theaterschaffende hat bereits in vielen Funktionen im Jugendtheater Willisau mitgewirkt. Nun leitet er zum ersten Mal das Erwachsenentheater. Basierend auf der Original­erzählung «Der Sandmann» von E. T. A. Hoffmann hat er eigens für Willisau ein Theaterstück geschrieben. Dabei kam ihm die Idee, die Figur des Na­thanael mit drei Schauspielerinnen und Schauspielern gleichzeitig zu besetzen: «So kann eine ursprünglich männliche Rolle auch von Frauen gespielt werden und Nathanaels vielseitiger Charakter kommt überzeugend zur Geltung.» Es ist einer von vielen Kniffen, die den Stoff aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart holen.

Zum 100. Mal ein Theater vertont
Einen Anteil daran hat auch der Musiker Christov Rolla, der in Willisau ein persönliches Jubiläum feiert: In «Der Sandmann» schafft er bereits zum 100. Mal die Musik für eine Theaterproduktion. Klassischen Klavierstücken und Volksliedern aus der Romantik verleiht er mal einen kitschigen Hauch, mal einen teuflischen Grusel und bereichert den Abend mit seiner Musik enorm. Von einem grossen Podest aus beobachtet Christov Rolla wie Nathanael wilden Spekulationen nachgeht und sich vom einen Unglück ins nächste stürzt. Der Musiker ist dabei umgeben von verkabelten Computer-Nerds in schlabbrigen Kapuzenpullovern. Sie gewähren Einblick in Nathanaels Gedanken und lassen die Frage aufkommen, wer hier eigentlich wen kontrolliert. Auch durch die Kostüme von Ems Troxler entsteht im Zeughaus ein Kontrast zwischen futuristischen Hackergestalten und dem Leben längst vergangener Tage. Ein gelungenes Bild, denn die zeitlosen Themen des Stücks beschäftigten die Menschen vor 200 Jahren wohl genauso wie heute und in der Zukunft. Auf der Bühne bestimmen die Ängste aus Nathanaels Kindheit immer mehr, wie er die Welt wahrnimmt. Auch für das Publikum ist kaum mehr zu unterscheiden, was in diesem Schauermärchen trauriges Schicksal und was blosser Zufall ist. Mit dem Auftritt der verrückten Professorin Spalanzani und ihrer Tochter Olimpia findet Nathanaels Verwirrung seinen Höhepunkt. Auf witzige Weise wird dem Publikum der schmale Grat zwischen Wirklichkeit und Einbildung vor Augen geführt. Auch politisch-gesellschaftliche Themen werden angedeutet ohne aufgedrängt zu werden. «Der Sandmann» ist ein gekonntes Spiel mit Spekulationen und Deutungsmöglichkeiten. Dank dem Wirken der Dramaturgin Christine Schmocker bleibt die Handlung dabei trotz skurriler Szenen und eigenartigen Figuren klar und verständlich. Sie leistete wichtige Arbeit, denn für den Regisseur Robin Andermatt war es das Ziel, ein Stück zu schaffen, das auch für Theaterlaien und Teenager zugänglich ist. Zusammen mit dem ganzen Team der Theatergesellschaft Willisau ist ihm dies auf eindrückliche Weise gelungen.

von Manuel Küng
 
Der Sandmann: Kulturraum Zeughaus i der Sänti. Aufführungen:  31. Oktober / 2. * / 3. / 6. / 8. * / 10. / 13. / 15. / 16. / 17. / 20. / 22. November, jeweils um 20 Uhr, sonntags um 15 Uhr (* anschliessend an die Aufführung Konzert in der Theaterbar). Abendkasse und Bar sind eine Stunde vor Aufführungsbeginn geöffnet. Eintrittspreise: 35 Franken Erwachsene; 25 Franken Lehrlinge, Studenten, Theater-Veteranen. Tickets: online auf www.theater-willisau.ch oder bei Papeterie Imhof, Tel. 041 970 14 34.

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