Nachruf

30. August 2021

Nina Lichtsteiner-Blum

Nina Lichtsteiner-Blum
Ohmstal

Mit diesem Nachruf berichten wir über das Leben von unserem Muetti, Nina Lichtsteiner-Blum, die ein intensives und gehaltvolles Leben von 98 Jahren auf dieser Welt verbringen konnte und durfte. 98 Jahre, angereichert mit Erfahrungen aus verschiedenen Zeitepochen, welche unser Muetti geformt, gefordert, geprägt, strukturiert, entwickelt, gefördert und gezeichnet haben. Stellen wir uns vor, in ihren Kinderjahren wurden Errungenschaften wie elektrisches Licht im Hause, Telefon, Autos usw. erst erfunden, eingesetzt und weiterentwickelt. Muetti wuchs mit der Petrollampe, mit Ross und Kutsche auf und als Fortbewegungsmittel diente in erster Linie der Fussmarsch.

Unser Muetti wurde am 16. Januar 1923 als drittältestes Kind auf dem Landwirtschaftsbetrieb «Fadenhof» in Ohmstal geboren und wuchs gemeinsam mit 13 Geschwistern auf dem stattlichen Bauernhof auf. Einfache, friedliche, liebevolle, sorgenfreie Jahre zwischen den beiden Weltkriegen prägten die Kindheit. Das Zusammensein wurde bestimmt, bereichert und gesegnet vom bäuerlichen Alltag. Die Verbundenheit zur Natur, die Verantwortung für die Tiere, gelebte Traditionen, der tiefe Glaube der Eltern, das Feiern kirchlicher Feste, die vielen Besuche aus der Verwandtschaft als Ausdruck einer Gemeinschaft, die Familie als Kern gegenseitiger Unterstützung sind sinnbildlich für die Werte und offenbaren den damaligen Zeitgeist auf dem Bauernhof. Diese Grundwerte waren das Fundament einer konsequenten auf Bescheidenheit ausgerichteten Erziehung und Lebensgestaltung. Erzählungen unserer Mutter über ihre Kindheit hörten sich für uns Kinder wie «Hörbücher» an.

Idylle ist weg, tragischer Verlust
Diese Idylle wurde im Jahre 1939 sehr einschneidend zerstört, als Ninas Mutter 44-jährig infolge einer Hirnblutung mehrere Wochen im Spital war. Im gleichen Jahr erhielt der Vater die Diagnose Leukämie und starb wenige Wochen später. Die Familie stand vor einer schier unlösbaren Situation.

Zu dieser Zeit war unser Mueti 16 Jahre alt und die obligatorische Schulzeit – Primarschule in Ohmstal, Sekundarschule in Schötz – als eifrige gute Schülerin zu Ende. An eine Ausbildung war nicht zu denken, denn die verwitwete Mutter war auf die Mithilfe der älteren Söhne und Töchter angewiesen, war doch das jüngste Kind noch nicht ein Jahr alt. Es kam noch dazu, dass infolge der Mobilmachung im Jahre 1939 die landwirtschaftlichen Angestellten (auch Knechte) einrücken mussten und so fehlte die Manneskraft auf dem Hof. Notgedrungen hiess es für alle Kinder ihren Kräften entsprechend von früh bis spät in Haus und Hof zu arbeiten, damit die Familienmitglieder und die Tiere versorgt, der Ackerbau gemeistert und die Ernte eingebracht werden konnte. Wir können uns nur schwer vorstellen, wie viel Entbehrung und Härte diese schwierige Zeit gefordert haben.

Diese schwere Last nagte an den Kräften von Ninas Mutter. Sie erkrankte an Krebs, war wieder längere Zeit im Spital, bis sie 49-jährig im Jahre 1945 starb, fünf Jahre nach dem Tod des Vaters. Die lange Krankheit und der frühe Tod der Mutter forderten die ganze Kinderschar erneut zutiefst heraus – die 14 Kinder waren nun ohne Eltern, das älteste Kind erst 23 Jahre alt. Finanzielle Unterstützung vom Staat (Waisenrenten) gab es damals noch nicht, die Existenz war bedroht. Nebst bäuerlicher Arbeit wurden die geforderten Erziehungsaufgaben auf die älteren Geschwister übertragen. Unser Muetti arbeitete bis zum 20. Lebensjahr zu Hause auf dem elterlichen Bauernhof. Berufsausbildungen waren den Brüdern zugesprochen. Feld- und Stall­arbeiten. Haushalt- und Näharbeiten füllten die sehr langen Arbeitstage aus.

Erste Schritte in die kleine Welt
Mit 20 Jahren durfte unser Muetti für 3.5 Jahre eine Stelle in Luzern als Haushaltshilfe antreten. Dies war für Muetti eine erlebnisreiche Zeit. Sehr oft hat uns Muetti von dieser Zeit erzählt, es waren die ersten Schritte in die «Freiheit». Anschliessend an die Stelle in Luzern gönnte sich Muetti mit dem eigens verdienten Geld eine Haushaltungsschule in Fribourg, lernte Französisch und vertiefte ihre Kenntnisse anschliess­end als Gouvernante auf dem Schloss Pradegg im Wallis.  

Liebesromanze, Liebesbriefe, Heirat
Bereits in frühen Jugendjahren, mit 16 Jahren, hat Nina ihren zukünftigen Mann Alois kennengelernt, als dieser vom Nachbarhof «Burst» nicht uneigennützig oft auf dem «Fadenhof» an schulfreien Tagen und Ferien aushalf. Nina und Alois lebten eine sehr wertschätzende Liebesromanze. Unser Muet­ti erzählte, dass sie Alois während der einjährigen Haushaltschule nur zweimal gesehen hätte, die Liebe wurde mit Liebesbriefen genährt. In den Anfangszeiten der Jugendliebe erreichten die Liebesbriefe die Verliebten oft nur auf Umwegen, denn so ganz öffentlich durfte die Beziehung in den jungen Jahren (16/17 Jahren) nicht gelebt werden. Da bot der unverfängliche Gang zur Kirche mit gemeinsamem Kirchweg gute Dienste.

1948 – mit 25 Jahren – heiratete Muetti in der Pfarrkirche in Schötz ihren lieben Alois, der sie in all den schwierigen Jugendjahren auf dem elterlichen Bauernhof begleitet und ihr viel Kraft gegeben hat.

In die neue Familie
Im neu erbauten Sonnenblick neben dem Schulhaus in Ohmstal zog das junge Paar ein und schenkte drei Mädchen und drei Knaben das Leben. Nina war eine sehr fürsorgliche Mutter und eine sehr tüchtige Hausfrau, gerne auch als Gastgeberin (Schulkinder, Verwandte), die neben der Arbeit für die Familie auch Zeit und Herz hatte, um für benachteiligte Familien in der Gemeinde Kleider anzufertigen und zu flicken. Unser Muetti vertraute den von ihren Eltern vorgelebten Werten und diese waren dann auch das tragende Fundament in der Erziehung von uns Kindern.

Leidenschaft und Hobby
Unser Muetti erzählte immer wieder, dass sie gerne Handarbeitslehrerin geworden wäre. Dieser Wunsch konnte aber in den entbehrungsreichen Jugendjahren nicht erfüllt werden. Sie hatte diesbezüglich viele Talente und zeigte sie bis ins hohe Alter. Kleider kaufen war – als wir Kinder klein waren – keine Option, unser Muetti hatte die Kleider (Unterhosen, Strumpfhosen, Jacken, Röcke, Pullover, Hosen) selber gemacht, auch Teppiche geknüpft, Polsterüberzüge gehäkelt, Wandbehänge wurden angefertigt.

Ein weiteres Hobby war die Gartenarbeit. Unser Muetti verstand es ausgezeichnet rund ums Haus mit Blumen, Gemüse und Beeren Augen, Herz, Gemüt und Gaumen zu erfreuen und uns Kindern diese Freude weiterzugeben. Der biologische Gartenbau war ihr sehr wichtig und sie vertiefte ihr diesbezügliches Wissen fortwährend. Gartenarbeit war für unser Muetti auch Erholungsarbeit, Erholung von der strengen Erziehungsarbeit. Im Sommer ging Muet­ti regelmässig um 5 Uhr in den Garten, richtete danach das Morgenessen für die Familie und bereitete uns Kinder auf die Schule vor. Unser Vater war bis zum Morgenessen auch bereits mit Büroarbeiten beschäftigt. Unser Muetti hat das Kerngeschäft einer Familienorganisation sehr gut verstanden und die Verantwortung in allen Bereichen übernommen, dies führte sie sicher auch mal an Belastungsgrenzen. Unser Muetti sagte oft, dass sie als Ehefrau, Mutter und Hausfrau und mit dem Freiraum für Hobbys (Stricken, Garten, später gemeinnützige Tätigkeiten) ein schönes Leben hatte. Sie unterstützte zusätzlich unseren Vater in seinem öffentlichen Wirken. Der Verzicht auf persönliche Bedürfnisse erachtete sie in dieser Phase als Tugend.

Gemeinnützige Tätigkeit – Wertewandel
Als wir Kinder langsam selbständig wurden, lockten die frei werdende Zeit und Energie zur Umsetzung ihrer Wünsche für ausserhäusliches Wirken im Rahmen gemeinnütziger Arbeit. Muetti setzte sich z. B. im Vorstand der katholischen Müttervereinigung der Pfarrei Schötz ein, war über einige Jahre Mitglied der Schulbehörde Schötz, war in deren Fachkommission Handarbeit und Hauswirtschaft. In dieser Zeit interessierte sich unser Muetti verstärkt für weltliche Themen, bildete sich in verschiedenen Bildungshäusern zu verschiedensten Lebensthemen weiter und sie kaufte sich endlich auch was Persönliches wie z. B. Bücher. Das Interesse und die Auseinandersetzung mit Themen des Lebens, das Praktizieren von Meditationen gab unserem Muetti einen neuen Blick in den Zeit- und Wertewandel. Der kritische Blick in die Welt und auf die Institutionen freute uns Kinder sehr. Muetti besuchte unzählige Kurse mit Makramee, Peddig­rohr, Kunststricken und Mosaik und lebte so die ausserhäusliche Freiheit. Einer erwerblichen Tätigkeit ging unser Muetti nie nach, wie das zu jener Zeit üblich war.

Mit dem ersten Auto, das unser Vater im Jahre 1969 kaufte, eröffneten sich auch neue Welten. 4-Pässefahrten an Sonntagen waren nicht selten und unser Muetti eroberte die Schweizer Geografie. Mit der Tatsache, dass sie selber nicht Auto fahren konnte, haderte Muetti bis ins hohe Alter. Zur Silbernen Hochzeit erfolgte der erste längere Urlaub im Ausland mit einer 14-tägigen Mittelmeer-Kreuzfahrt. Nach der Pensionierung des Vaters konnten weitere Grenzen verschoben werden. Es folgten weitere mehrwöchige Reisen nach Rom, Ägypten und Indien oder Langlauf- und Wanderferien in den Bergen.

Nina war auch eine treibende Kraft zur Realisierung des Turnhallenbaus in Ohmstal, Mitbegründerin der Frauenturngruppe, erste Präsidentin und eine eifrige Turnerin bis und mit 93 Jahren. Danach vermisste sie den Kontakt zu ihren Mitturnerinnen. Viele von ihnen besuchten sie deshalb oft, oder sie wurde für ein Jässchen abgeholt. Das erfreute und schätzte sie sehr.

Als Grossmutter leistete unser Muetti nochmals ehrenhafte Dienste, freute sich später auf Besuche der in der Zwischenzeit erwachsenen Enkel und Enkelinnen. Sie kamen gerne, weil das Grosi eine ausgezeichnete Köchin war. Die Urgrosskinder machten sie im hohen Alter nochmals sehr stolz. Die unzähligen Familienzusammenkünfte werden in schöner Erinnerung bleiben, denn Muetti war mit ihren Kochkünsten eine wunderbare Gastgeberin.

Schicksalsschläge
Ein schwerer Schicksalsschlag für Muetti war die Krankheit und der Tod ihres Sohnes, unserem Bruder Hans, im Jahre 2002, und der Verlust ihres Gatten Alois im Jahre 2010, nach mehr als 60 Jahren gemeinsamer Zeit im Sonnenblick. Diese beiden Verluste setzten unserem Muetti sehr stark zu. Sie fühlte sich oft einsam. Es dauerte Jahre, bis ihre Trauerarbeit sich wieder in Lebensenergie umwandeln konnte. «Nie hätte ich mir vorgestellt… im Alter alleine im Hause leben zu müssen…», sagte Muetti oft, nicht beiläufig, es tat ihr wirklich weh. Muetti war damals 88 Jahre alt. Ab dieser Zeit war Muetti an den Wochenenden und später an allen Tagen und Nächten nie alleine im Hause Sonnenblick.

Letzte Jahre zu Hause in Ohmstal
Muetti war bis ins Alter von 94 Jahren noch sehr aktiv in Haus und Garten. Der Aktionsradius schränkte sich dann mehr und mehr ein, weil die körperliche Beweglichkeit und das Augenlicht durch einen kleinen Hirninfarkt abnahmen. Die geistige Beweglichkeit und das Interesse für gesellschaftliche Themen und das Organisieren in und um das Haus blieben bis zum Schluss ungebrochen. Es war nicht immer einfach für unser Muetti, nicht mehr aktiv im Garten arbeiten zu können oder am Schluss auch das Kochen ganz den andern zu überlassen. Unser Muetti war nie krank, sie benötigte keine Pflege, sie durfte alt werden und hat die Beschwerlichkeiten des Alters im vertrauten Heim im Sonnenblick bis zum Schluss leben können. Das Wohnen zu Hause war zusätzlich möglich, weil unser Muetti mit Trudi Roth in den Jahren von 2016 bis 2020 während 3 Tagen/4 Nächten pro Woche stunden- oder tageweise eine sehr herzliche, vertrauensvolle Begleitung geniessen konnte. Trudi war für unsere Mutter eine Freundin, eine Ratgeberin, und eine Fachfrau für Altersfragen. Das Wohnen zu Hause war auch nur deshalb möglich, weil wir Kinder über Jahre durch sehr viel Präsenz, Betreuung und Begleitung dies ermöglichten. Muet­ti hat diese Betreuung sehr dankbar angenommen, sie war glücklich, dass sie zu Hause sein durfte. Wir durften sie begleiten und langsam loslassen.

In den letzten Monaten füllten Gottesdienste und Rosenkranzgebete am Fernsehen die langen Tage aus. Sie gaben Muetti eine Struktur und sie schöpfte daraus die Kraft, die Altersbeschwerden zu meistern. Muetti hat in den letzten Wochen und Tagen noch oft stundenlang am Fenster gesessen und gestrickt. Unser Muetti war eine starke Frau, die auch im hohen Alter bis zum letzten Tag immer noch genau wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte.

Am 1. Mai 2021 ist unser Muetti nach einem kleinen Sturz zu Hause im Rahmen eines Kontrollaufenthaltes im Spital Sursee nach akutem Herzversagen doch überraschend verstorben. Die Kräfte haben Muetti verlassen. Was uns bleibt ist die Erinnerung an eine wunderbare Frau, an eine glückliche gemeinsame Zeit und die Liebe, die weit über das Grab hinaus bestehen bleibt. «Bhüet di Gott»…» war ein innigster Ausdruck von unserem Muetti. Unser Muetti hat uns Kinder bis zum letzten Tag nach jedem Besuch immer mit diesen Worten verabschiedet… und Weihwasser auf die Stirn gekreuzt.

«Muetti, bhüet di Gott Schutzengeli und Mutter Gottes, fahr oder flüüg guet of diner letschte Reis ond lass lo lüüte, wenn du guet acho besch…», symbolisch gemeint, so wie sie uns Kinder auch immer verabschiedet hat, wenn wir das Haus verlassen haben.
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