Nachruf

18. Januar 2021

Anna Affentranger-Häfliger

Eppenwil, Altbüron

Unser aller Leben ist die Summe unserer Erfahrungen, wie wir damit umgehen und was wir daraus lernen. Die Erfahrungen unserer Mutter haben am 19. August 1927 in der Stampfi (Gde. Grossdietwil) ihren Anfang genommen, wo sie als fünftes von acht Kindern in die Bauernfamilie Häfliger geboren wurde.


Immer, wenn unsere Mutter von ihrer Kindheit und Jugend in der Stampfi erzählt hat, spürte man, dass sie von ihrer Familie und besonders von ihrer Mutter ein Urvertrauen und eine Lebensweisheit mitbekommen hat, die ihr für das ganze spätere Leben Kraft und Orientierung gegeben haben.


Wie so vielen jungen Frauen dieser Zeit war es ihr jedoch nicht vergönnt, nach der Grundschule eine Berufsausbildung zu machen. Stattdessen musste sie zu Hause auf dem Hof mitarbeiten.


Dass eigene Wünsche nicht im Mittelpunkt standen, dass man in vielem nicht frei bestimmen konnte, war damals eher die Regel als die Ausnahme. Doch gerade dadurch erlangten viele dieser Generation eine Fähigkeit, die auch eine Stärke unserer Mutter war: das Leben so zu nehmen, wie es ist.


Am 6. Juli 1948 hat Anna Häfliger im Alter von 20 Jahren unseren damals 26-jährigen Vater, Josef Affentranger, geheiratet. Sie hat die Stampfi verlassen und ist zu ihm auf den Bauernhof nach Eppenwil (Gde. Grossdietwil) gezogen. Es war für unsere Mutter damals alltäglich, im Sommer um 4 Uhr aufzustehen, mit dem Vater zusammen grasen zu gehen, den ganzen Haushalt zu erledigen und bei den Arbeiten auf dem Hof mitzuhelfen. Im Winter hat sie die Kleider der Grossfamilie und der Angestellten geflickt, bis tief in die Nacht Mutterkorn verlesen und zu jeder Tages- und Nachtzeit für alle Ängste und Nöte ihrer Nächsten ein offenes Ohr gehabt.


Dabei ist die grösste Aufgabe noch gar nicht genannt. Die hat nämlich darin bestanden, eine stetig wachsende Kinderschar von schliesslich acht Kindern grosszuziehen. Zuerst kamen zwei Mädchen zur Welt, Annelis und Rita, dann sechs Buben: Sepp, Urs, Pius, Markus, Peter und Thomas.
Wahrscheinlich auch zum Wohle ihrer Kinder hat sich unsere Mutter über Jahre in der Eppenwiler Schulpflege engagiert.


Wir können nur erahnen, über welch innere Stärke eine junge Frau verfügen musste, damit sie jeden Tag von neuem die Kraft fand, zu all diesen Aufgaben Ja zu sagen. Und unsere Mutter hat immer Ja gesagt. Als Kind hat man das als Selbstverständlichkeit hingenommen, denn man hat ja nichts anderes gekannt. Erst viel später begann man zu begreifen, was Mutter zusammen mit Vater alles getan haben, damit wir das Leben leben können, das wir heute haben.


In diesem Masse für andere da zu sein, war nur möglich, weil unsere Mutter viele von ihren eigenen Bedürfnissen weit zurückgestellt hat. Sie hat in einer Selbstlosigkeit ihre Pflicht erfüllt, wie wir uns das heute kaum mehr vorstellen können. Dabei ist «Pflicht» vielleicht sogar ein missverständliches Wort, denn Mutter hat nie den Eindruck erweckt, dass sie ihre Aufgaben als Pflicht empfunden hätte und lieber ein anderes Leben gelebt hätte. Ganz im Gegenteil. Immer, wenn man mit ihr auf diese früheren Zeiten zu sprechen kam, hat sie mit strahlenden Augen und mit hörbarer Wehmut gesagt, dass die Zeit, als alle Kinder noch zu Hause waren, zwar eine strenge, aber die schönste ihres Lebens gewesen sei – und man hat nicht einen Moment gezweifelt, dass sie das auch wirklich so gemeint hat.


Ob all der Arbeit hat unsere Mutter aber nie vergessen, dass zum Leben auch das Schöne und der Genuss gehören. Sie hat stets Sorge zu sich getragen und es verstanden, auf einfache Art ihre Schönheit zu unterstreichen. Nicht weniger hingebungsvoll widmete sie sich Haus und Hof. Mit Können und mit viel Liebe zum Detail hat sie den Hofgarten gepflegt und in allen Fenstern die Geranien so zum Blühen gebracht, dass wir Kinder und manch ein Spaziergänger innehielten, um sich an der Pracht und dem Überfluss zu erfreuen.


Doch unsere Mutter hatte nicht nur einen grünen Daumen. Einzigartig waren auch ihre Kochkünste. Sie hat im hauseigenen Steinofen ein Brot gebacken, wie man es nirgends kaufen konnte und wie wir es seit ihrer Zeit als Bäuerin nie wieder geniessen durften. Ihre Rösti war zwar nicht kalorienarm, aber von einer Chuscht, die einzigartig war. Bei grossen Anlässen hat sie gerne einen Hammen gemacht, der nach stundenlangem Garen so zart und saftig war, dass keiner, der ihn gekostet hat, es je vergessen wird. Und schliesslich war da noch ihre Schwarzwäldertorte, der wirklich niemand mit Sinn für Genuss widerstehen konnte. Ja, unsere Mutter hat das Leben bejaht. Sie hat es in uns und um uns herum in einer Fülle gedeihen lassen, die uns heute noch nährt.


Als Mutter von acht Kindern hat sie es geschafft, jedem einzelnen das Gefühl zu geben, ganz für es da zu sein. Egal welchen Weg jedes ihrer Kinder eingeschlagen hat, egal wofür oder wogegen es sich entschieden hat, sie ist wie ein Fixstern immer für jedes da gewesen. Es war beeindruckend, mit welcher Unvoreingenommenheit und Offenheit unsere Mutter zu all den ganz unterschiedlichen Lebenswegen ihrer Kinder bedingungslos Ja gesagt hat. Immer wieder hat sie aufs Neue bewiesen, was für ein aufgeschlossener und moderner Mensch sie war und dass nichts Menschliches ihr fremd gewesen ist.


Unsere Mutter hatte ein so grosses Herz, es hatte einfach alles Platz darin. Nicht nur eine grosse Familie hat darin Platz gefunden, auch alle Schwiegertöchter und Schwiegersöhne hat sie mit offenen Armen in ihr Leben aufgenommen. Selbst mit einer Schar von 12 Enkelkindern und schliesslich 8 Urgrosskindern ist es nicht eng geworden in ihrem Universum. Im Gegenteil. Durch ihre Offenheit ist ihre Welt immer noch reicher und noch grösser geworden. Mit Freude hat  sie die Grosskinder gehütet, sie das Jassen gelehrt und ihnen Märchen vorgelesen. All das kann nur, wer der Welt und den Menschen gegenüber eine lebensbejahende und liebevolle Haltung hat; unsere Mutter hatte beides.


Ihre positive Lebenseinstellung und die Fähigkeit, das Leben voller Gottvertrauen so anzunehmen, wie es war, haben ihr auch geholfen, in schwierigen Zeiten den Mut nicht zu verlieren und nach persönlichen Verlusten wieder ins Leben zurückzufinden. So hat sie unseren Vater durch seine schweren letzten Jahre hindurch begleitet, bis er am 11. Juli 1993 im Alter von 71 Jahren verstorben ist. Er starb am Abend desselben Sonntags, an dem er und unsere Mutter zusammen mit der ganzen Familie ihren 45. Hochzeitstag gefeiert hatten.


Nach seinem Tod und nach 45 Ehejahren hat sie es geschafft, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und zusammen mit ihren Kindern, Enkelkindern und Bekannten einen neuen Lebensinhalt und neue Lebensfreude zu finden.


Von 1993 bis 2010 hat sie selbständig in ihrer Wohnung in Altbüron gelebt, in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder Annelis, Rita, Pius, Markus und Peter. Im Alter von 83 Jahren wurde ein selbständiges Leben jedoch zunehmend zu einer Herausforderung, die ihre Kräfte zu übersteigen drohte. Immer klarer zeichnete sich eine weitere, grosse Veränderung in ihrem Leben ab: der Übertritt ins Alters- und Pflegeheim Murhof in St. Urban. Das Heimleben ist ihr anfänglich nicht leicht gefallen. Einmal mehr aber beeindruckte sie mit ihrer Fähigkeit, Herausforderungen immer auch als Chancen zu begreifen. Worin andere womöglich resigniert hätten, hat sie das Positive für sich erkannt. Als jemand, der gerne Menschen um sich hatte, fand sie nun im Zusammensein mit alten Bekannten und neuen Freunden im Heimleben eine neue Gemeinschaft. Dass unsere Mutter im Murhof ein echtes Zuhause gefunden hat, war aber nicht zuletzt auch das Verdienst der liebevollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Murhof sowie der ganzen Grossfamilie. Ihnen allen ist es zu verdanken, dass Mutter im Murhof 10 behütete und glückliche Jahre verbringen konnte.


Am 6. Dezember 2020, um 4 Uhr 20 in der Früh, ist nun – zumindest in dieser Welt – die unausweichlichste und endgültigste Herausforderung an unsere Mutter herangetreten. Wir dürfen getrost annehmen, dass sie auch dieser mit gleicher Offenheit begegnet ist und sich ihr mit gleichem Gottvertrauen hingegeben hat, wie sie es in ihrem Leben gegenüber Herausforderungen immer getan hat. Sie hat uns nicht nur das Leben gelehrt, sie hat uns auch gezeigt, wie man stirbt. Allen hat sie uns die Gelegenheit zum Abschied gegeben, uns losgelassen, uns freigegeben, damit wir unbeschwert und unbeschuldet unseren Weg weitergehen können.


Je mehr wir über Anna nachdenken, desto klarer wird, welch grosses Glück wir hatten, sie als Mutter, Grossmutter und Schwiegermutter gehabt zu haben. Alle sind wir dankbar für das, was sie in ihrer liebevollen, sanften und heiteren Art uns gegeben hat. Möge ihr Wesen in uns weiterleben.


Den Schmerz, den wir über ihren Verlust empfinden, ist der Preis für die Liebe, die sie uns geschenkt hat. Die Wurzel des Schmerzes ist die Quelle des Trostes.


Unser aller Leben ist die Summe unserer Erfahrungen, doch erst durch unser Zutun wird das Ganze zu mehr als der Summe seiner Teile. Unsere Mutter hatte ein reiches und erfülltes Leben. Sie hat es geschafft, aus ihren Erfahrungen ein Ganzes zu machen und ihrem Leben Sinn zu geben.

In Dankbarkeit, deine Kinder Annelis, Rita, Sepp, Urs, Pius, Markus, Peter und Thomas